Autoklassiker: Reisewagen on Tour

Die Mercedes Simplex 60 PS Touring Limousine - vielen bekannt als Jellinek Reisewagen - war der luxuriöse Ursprung der schwäbischen Automobile und ist als Einzelstück eines der wertvollsten Stücke im Stuttgarter Mercedes Museum. Nachdem er seit mehr als einem Jahrzehnt in der Ausstellung steht, ging es für diesen großen Bruder des Simplex Rennwagen nun auf große Tour ins Classic Center nach Fellbach. Einfach nur den Motor des roten Luxusmodells von 1907 starten und dann nach Fellbach knattern - das klappt dann doch nicht. Besonders kompliziert ist es, den Reisewagen aus der Ausstellung heraus zu bekommen, denn er parkt dort in der siebten Etage. Doch zur Weltpremiere der neuen Mercedes S-Klasse soll er ausrücken - bereits zum zweiten Mal, seit er im Museum steht.

Der Mercedes Jellinek Reisewagen war vor mehr als 110 Jahren das Maß der automobilen Dinge. Mit viel Platz für die ganze Familie und reichlich Gepäck wird der Klassiker von einem neun Liter großen Vierzylinder angetrieben, der mit seinen 60 PS eine Reisegeschwindigkeit von stattlichen 80 km/h ermöglichte. Nicht ganz so schnell wie der Renn-Simplex, der sogar 120 km/h schaffte. Aber dafür bot der Reisewagen opulente Platzverhältnisse und einen einzigartigen Komfort für Autohändler Emil Jellinek und seine Lieben. In der ersten Reihe des Dreitürers (eine Tür vorne und links und zwei Türen im Fond) saß der Fahrzeugführer auf einem bequemen Ledersofa, während im üppig dimensionierten Fond Emil Jellinek alleine schon so viel Platz hatte wie die ganze Familie.

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Der Umzug ins nicht einmal acht Kilometer entfernte Classic Center nach Fellbach wurde diesmal - deutlich kurzfristiger als üblich - erst im Juli geplant. "Normalerweise haben wir bei einer solchen Ausbringung mehr Zeitdruck", räumt Benedikt Weiler, Kurator im Mercedes Museum, ein. "Doch diesmal hilft uns die Corona-Situation, weil wir das Museum aktuell nur Freitag, Samstag und Sonntag geöffnet haben." Normalerweise ist es nur Montag geschlossen und die Firmen stehen bei den Ausbringungen schon am Sonntagabend bereit, wenn die letzten Besucher das Museum nahe des VfB-Stadions verlassen. Bis Dienstagmorgen um kurz vor acht Uhr muss dann alles fertig sein.

Wenn ein Koloss wie die Jellinek Reiselimousine mit ihren mehr als 2,1 Tonnen Gewicht umzieht, dann sorgt die spektakuläre Architektur des Museums dafür, dass eine Spezialfirma anrücken muss. Scholpp heißt das Unternehmen, das auf solche Transporte spezialisiert ist. "Wir transportieren schweres Gerät von 500 Kilogramm bis 500 Tonnen", sagt Projektleiter Christian Krämer, "wir waren beim Bau des Museums ebenso dabei wie bei der letzten Ausbringung des Reisewagens 2013. So ein Projekt ist für uns schon etwas Besonderes - aber eben auch schwierig."

Nach zehn Minuten hängt der erste Vorläufer der Mercedes S-Klasse schließlich in der Luft - alle atmen durch

Das Problem sind die gewundene Architektur und eben der Standort des Reisewagens in der siebten Etage. Einfach in den Aufzug und ins Erdgeschoss fahren, ist nicht möglich. Für schwere Lasten muss eigens ein tonnenschwerer Krankorb unter das Dach des Museums gehängt werden, der sonst im Keller eingelagert ist. Doch ehe dieser mit seiner Traglast von insgesamt 40 Tonnen nach oben gehoben werden kann, muss der Ursprung aller Mercedes S- Klassen erst einmal von seinem Ausstellungsplatz weg, wo er auf vier stabilen Stützen ruht. Dafür ist Scholpp mit einem acht Tonnen schweren Tentakelkran und einem großen Gabelstapler angerückt. "Wir haben in den Unterlagen zwei verschiedene Gewichte für den Reisewagen und bei so einem Manöver kommt es auf jede 50 bis 100 Kilogramm an", erklärt Krämer: "Da wir nichts riskieren wollen, hebt der Kran den Wagen mit einer eigens gebauten Spezialkonstruktion hinten an, während es vorne mit dem Gabelstapler einfacher geht."

Zumindest hat sich der mächtige Elektrokran mit seinen Auslegern schon einmal farblich angepasst. Das Modell Unic Typ B-780-2 ist in einem ähnlichen roten Farbton lackiert wie die Jellinek Reiselimousine. Nachdem die Schienenkonstruktion für die Hinterräder zusammengebaut ist, werden die vorderen Kotflügel abmontiert und an der Achse Spannseile für den gelben Yale-Gabelstapler montiert. Das alles unter den wachsamen Augen des Kurators, der an einem seiner wertvollsten Stücke keinerlei Beschädigungen haben will. Doch auch wenn einige Handgriffe wiederholt werden müssen und immer wieder nachjustiert wird - augenscheinlich werkeln hier Experten, die den millionenschweren Klassiker ja nicht zum ersten Mal aus seinem Parkplatz heben.

Als alle Seile und Ketten montiert sind, geht es an die Vorspannung. Die Hebeseile werden auf Zug gebracht und der Jellinek Reisewagen schließlich von seinen vier Halterungen gelöst. Zentimeterweise wird der rote Koloss angehoben und als er sich leicht schräg einpendelt, muss noch zweimal nachjustiert werden. Nach zehn Minuten hängt der erste Vorläufer der Mercedes S-Klasse schließlich in der Luft - alle atmen durch. Danach wird Christian Krämer zum Dirigenten und instruiert Piloten, Kran und Gabelstapler, das Ungetüm ein paar Meter weiter auf den Boden zu stellen. Von dort aus kann er in den Lastkran rollen. Der komplette Boden auf der Museumetage wurde ausgelegt, damit es auch hier keine Beschädigungen durch die Maschinen, Techniker und Gerätschaften gibt. Irgendwie sieht es aus wie beim heimischen Umzug - nur größer.

Nachdem alle einmal durchgeatmet haben, rollt die Touring Limousine schließlich in den Lastkran und fährt in lautloser Schleichfahrt hinab ins Untergeschoss. Der Weg auf den Transporter und dann weiter ins Classic Center ist danach ein Kinderspiel. "Mitte Oktober soll der Jellinek wieder zurück ins Museum kommen. Dann gibt es das Ganze noch einmal andersherum", sagt Christian Krämer. Bis dahin bleibt der Platz in der Ausstellung leer. Benedikt Weiler: "Für so ein Fahrzeug haben auch wir keinen Ersatz."

Stand: 20.08.2020	Artikel bookmarken
Text: Stefan Grundhoff	Auf Artikel linken
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Ort: Stuttgart