Wenn eine neue Baureihe von Mercedes-Benz auf den Markt rollt, dann sind die Erwartungen besonders hoch. Das ist bei der neuen X-Klasse nicht anders. Schon der knappe Name irritiert - scheint der doch fest mit der Marke BMW verbunden, deren X-Modelle längst mehr als ein Drittel aller verkauften Bayern-Modelle ausmachen. Doch ab November gibt es auch eine X-Klasse von Mercedes. Kein "echter" Benz, denn die Technik ist zu großen Teilen mit dem Nissan Navara identisch. Und im spanischen Nissan-Werk wird die X-Klasse zusammen mit dem Navara und dem Renault Alaskan auch produziert. Ab 2019 wird der Pick Up dann auch in Cordoba/Argentinien vom Band laufen.
Doch man täte dem X-Modell Unrecht, würde man ihn allein als Nissan betrachten. Beim Design bekam das Daimler-Nutzfahrzeug-Team rund um Christian Pohl eine überraschend lange Leine. Von außen steht der 5,34 Meter lange Koloss da wie ein modern gezeichneter automobiler Fels in der Brandung - egal, ob im Straßenverkehr oder in der Wildnis. Gerade von vorn und von der Seite wirkt der Nissan-Zwilling wie ein Mercedes GLS mit offener Ladefläche - so wuchtig und massig wirkt das Paket.
"Wir wollen in dem Segment Benchmark sein", sagt Chefentwickler Stephan Manger, "wir werden daher auch Sechstzylinder und unsere Siebengangautomatik bringen." Die Nutzlast der X-Klasse beträgt 1,1 Tonnen und es gibt genug Platz für eine Euro-Palette. Doch los geht es im Herbst nur mit dem schmalen Nissan-Paket, das kaum zu einem massigen Mercedes-Offroader passen will. So gibt es zum Marktstart nur zwei 2,3 Liter große Vierzylinderdiesel mit 163 (X 220d) und 190 PS (X 250d) - eben das Antriebspaket, das auch der Navara seinen abenteuer- und freizeithungrigen Insassen anbietet.
Die Basisversion bietet Hinterradantrieb und Sechsgang-Handschaltung, die stärkeren Versionen zuschaltbaren Allradantrieb und Siebengangautomatik. Für Märkte in Nordafrika oder den Vereinigten Arabischen Emiraten wird zudem ein Zweiliter-Saugbenziner namens X 200 mit gerade einmal 165 PS und Hinterradantrieb angeboten.
Und es ist eine faustdicke Überraschung, dass Mercedes auf dem weltweit größten Pick-Up-Markt in den USA mit seiner neuen X-Klasse gar nicht erst antritt. Wie schon vor Jahren Volkswagen mit seinem kaum kleineren Amarok wollen sich die ansonsten so US-affinen Stuttgarter auf die Märkte in Südamerika und Europa konzentrieren.
Der Grund liegt nach Aussagen von Mercedes-Verantwortlichen in der Dimension der X-Klasse. Auch wenn 5,34 Meter Länge, weit mehr als zwei Tonnen Leergewicht, über eine Tonne Nutzlast und umfangreiche Offroad-Fähigkeiten zunächst imposant erscheinen - in den USA weht ein anderer Wind. Dort würde die Mercedes X-Klasse in das Midsize-Segment der Pick Ups fallen und gegen Modelle wie Honda Ridgeline oder Chevrolet Colorado antreten. Die eigentliche Musik aber spielt nicht nur bei Fans von 50-Unzen-Steaks, Rodeo und Countrymusik eine Klasse darüber. Massenmodelle wie Ford F-150, Chevrolet Silverado oder Dodge RAM sind größer, schwerer und insbesondere leistungsfähiger als die X-Klasse, der ihre enge Verwandtschaft zum Navara im Wege steht.
Während sich die X-Klasse von außen beinahe wie ein echter Mercedes anfühlt, gibt es im Innenraum ein zweigeteiltes Bild
Überhaupt hat sich Mercedes schwer getan, einen Pick Up auf breite Reifen zu stellen. Bereits von der ersten Generation der Mercedes ML-Klasse, produziert im amerikanischen Tuscaloosa, wollte man vor rund 20 Jahren ursprünglich einen Pick Up ableiten. Doch die Testmodelle waren um ein Vielfaches zu teuer, um die US-Kunden zu locken. Man hätte gegen die sehr günstig angebotenen Full-Size-Pick-Ups in den Vereinigten Staaten keine Chance gehabt. Denn die beginnen noch heute zu Sparpreisen weit unter 30.000 Dollar und selbst die Edelversionen knacken kaum die 50.000-Dollar-Marke - inklusive V8-Power, gigantischer Nutzlast und über 350 PS.
So kam die Kooperation mit Renault-Nissan gerade recht, um zumindest einen halben Schritt zu machen. Pick Up - ja. US-Markt - nein. Komfortable Doppelkabine, Mercedes-Design und Konzerntriebwerke sollen erst einmal die Basisnachfrage testen. Während sich die X-Klasse von außen beinahe wie ein echter Mercedes anfühlt, gibt es im Innenraum ein zweigeteiltes Bild. Instrumente, Multifunktionsbildschirm und Bedienmodule oberhalb der Gürtellinie kennt man von der Mercedes C-Klasse. In der unteren Hälfte der Armaturentafel an Mittelkonsole, Schaltern und Sitzen gibt es jedoch Nissan-Ware, die im Vergleich zum Sternenkleid deutlich abfällt. Immerhin erspart einem Daimler eine so peinliche Lösung wie bei dem Mercedes Citan, der nicht mehr ist, als ein billiger Renault Kangoo mit Mercedes-Stern.
Der Kundenkreis scheint bereits gefunden und die Mercedes-Händler jubeln. Welcher Bauingenieur, Architekt oder Handwerker bisher in einem Nissan Navara, Ford Ranger, Mitsubishi L200 oder VW Amarok unterwegs war, der hat ab Ende des Jahres erstmals die Möglichkeit, sich in einem Pick Up mit Mercedes-Stern zu sehen. Für Leistungsfähigkeit auf und abseits befestigter Pisten sorgt ein Paket aus Leiterrahmen, Mehrlenkerachse mit Schraubenfedern hinten und doppelten Querlenkern vorn durchaus überzeugend. "Je nach Modell haben wir bis zu 22 Zentimeter Bodenfreiheit, schaffen 50 Grad Seitenneigung und 45 Grad Steigung", erklärt Pohl, "je nach Kundenwunsch bieten wir die drei Ausstattungsvarianten Pure, Progressive und Power an." Für den harten Geländeeinsatz gibt es zudem Untersetzung und eine optionale Differenzialsperre.
Groß erscheint der Unterschied zum Nissan Navara jedoch nicht. Von einem Mercedes mit den opulenten Abmessungen wie der X-Klasse erwartet man eben doch etwas mehr als 190-Diesel-PS, vier Zylinder, Siebengangautomatik und 450 Nm maximales Drehmoment. Immerhin soll 2018 der Dreiliter-V6-Diesel mit Siebengangautomatik, permanentem Allradantrieb, 620 Nm und 258 PS folgen. Doch ob ein leistungsstarker Benziner das Portfolio nach oben abschließt und sogar mit einem imagestarken AMG-Signet krönt, steht in den Sternen. Die Optik würde es allemal hergeben. Schließlich ist die Mercedes X-Klasse allein sieben Zentimeter breiter als der Nissan Navara. Preislich soll es übrigens bei 37.294 Euro losgehen.
|