Kurz & bündig
|
[+] Grandiose Fahrleistungen, realer Alltagsnutzen, ordentliche Reichweite, sehr gute Straßenlage |
[-] Exorbitanter Preis, hohes Gewicht, lange Ladezeit |
|
Es ist früher Nachmittag in Kristiansund, einem kleinen Nest in West-Norwegen. Die Sonne scheint, die roten Häuser verzücken ebenso wie die Mischung aus grünen Hügeln und dem ruhig plätschernden Atlantik. In Kristiansund interessieren sich die Leute kaum für Autos – und schon gar nicht für Sportwagen. An dem kleinen Flugfeld, von dem aus Monteure Tag für Tag mit blau-roten Sikorsky-Hubschraubern Richtung Bohrinseln zu ihren Montageschichten aufbrechen, stehen Toyota Camry, Opel Astra oder mal ein 3er BMW. Einen Mercedes SLS hat hier noch nie jemand in Natura gesehen – schon gar nicht in neongelb.
Norwegen sieht sich als grüner Staat, versorgt sich selbst gerne mit Ökostrom aus Wasserkraft, ist aber auch einer der größten Erdölexporteure und sichert sich damit seit Jahren seine wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Natur kann hier kaum natürlicher sein. Gerade deshalb kommen im Sommer die Touristen und bevölkern die Straßen am Meer mit ihren Wohnmobilen. Man denkt an Reinheit, skandinavische Midsommartage - und ganz gewiss nicht an die nächste Vollgasfahrt. Auch nicht an Elektroautos: Wegen der langen Distanzen und den großen Temperaturschwankungen eignen sie sich hier kaum.
Ein grell-gelber Mercedes SLS passt hier also ungefähr genauso hin wie eine Elefantenherde. Und vermutlich sind hier bis dato auch genau so viele SLS unterwegs gewesen. Ganz gewiß aber keine mit elektrische Antrieb.
Bis jetzt. Denn Mercedes präsentiert in dieser Idylle seinen Öko-Sportler mit den Flügeltüren.
Obwohl der neon-gelbe Elektro-SLS nach dem Start kaum mehr als ein Surren von sich gibt, springt er gleich los und presst den Fahrer in den wenig stimmig kolorierten Sportsitz. Tempo 50, 100, 150 und schließlich 200 – die Tachonadel fliegt vorbei. Und nur kurz fällt bei der elektrischen Vollgasorgie über das Flugfeld auf, dass im Armaturenbrett gar kein Tourenzähler arbeitet. Wo sonst rechts die Drehzahl leuchtet, zeigt ein Digitalinstrument Kraftfluss und Restkapazität des 450 Kilogramm schweren Akkupakets. Unglaublich, wie der E-Cell loslegt.
Bereit für den Serienlauf
Das elegant sportliche Cockpit des "normalen" Mercedes SLS ist bei der E-Cell-Version nicht wiederzuerkennen. So gibt es keine Tachonadel, sondern eine Tachoscheibe die sich dreht und den gewaltigen Vortrieb des über zwei Tonnen schweren Boliden visuell unterstreicht. Noch eindrucksvoller ist die Mittelkonsole, die von einem in ipad-Form gegossenen Großdisplay dominiert wird. Touchscreen, klar.
Klimatisierung, Radio, Festplattenspieler oder Navigation - alles sieht perfekt aus und unterstreicht, dass der Mercedes SLS E-Cell bereit scheint für den Serienanlauf. Auch außen sieht der Schwabensportler - absehen von der grellen Papageien-Lackierung - kaum anders aus als ein Serienfahrzeug. Die Heckschürze wird von keinen Endrohren ein gerahmt: Kein Verbrenner – keine Abgase.
Doch Kai Marten aus dem AMG-Vorstand dämpft die Erwartungen, die nach den ersten Kilometern noch gewaltiger werden. "Dadurch, dass bei der Gesamtkonzeption des Fahrzeugs bereits eine Elektroversion bedacht wurde, hatten wir einen Vorsprung. Doch es gibt für uns noch genug zu tun, ehe der SLS E-Cell serienreif ist."
Während Audi seinen e-tron bereits für 2012 angekündigt hat, will Mercedes seine Powerflunder erst 2013 in einer Kleinserie auf den Markt bringt. Mit dem Preis von 180.000 Euro für den gewöhnlichen SLS wird es dabei nicht getan sein. Für die ersten Modelle darf man getrost mindestens mit dem Doppelten rechnen.
Vier Elektromotoren, die nahe den einzelnen Rädern untergebracht sind, verleihen dem SLS E-Cell Flügel. Dabei kann der Prototyp üppiges Eigengewicht von über zwei Tonnen nicht überspielen. In schnellen Kurven oder auch beim Spurt von 0 auf 100 km/h (in unter fünf Sekunden) macht sich das Leergewicht allemal bemerkbar. Schließlich bringt der E-Cell gut 300 Kilogramm mehr auf die Waage als der Benziner. Die Lithium-Ionen-Akkus wiegen dabei allein 450 Kilogramm. Sie sind im Mitteltunnel, im Vorderwagen und hinter den Sitzen untergebracht. Geliefert werden sie von Kokam, einem Batteriespezialisten aus Korea.
Niedriger Schwerpunkt
Der elektrische Allradantrieb und der niedrige Schwerpunkt steigern die Fahrfreude dennoch immens. "Im Vergleich zum normalen SLS ist der Schwerpunkt des E-Cell nochmals 23 Millimeter tiefer", erklärt Jan Feustel, bei AMG für den elektrischen SLS zuständig. ABS, ESP und weitere Regelsysteme sind an Bord und funktionieren ebenso prächtig wie die neue konzipierte Vorderachse mit Push-Rod-Dämpfern.
Die Vorgaben des benzinbetriebenen SLS sind mit 571 PS und 317 km/h Spitze hoch. Doch die vier Elektromodule des E-Cell halten gut mit. Sie leisten 392 kW/533 PS - und ein gigantisches Drehmoment von 880 Nm. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 250 km/h. "Das erwarten die Kunden von AMG. Wir sind eine Performance-Marke. Daher soll der SLS E-Cell auch so schnell sein wie unsere anderen Modelle", sagt Marten. Wie sehr das Vollgas die avisierten 200 Kilometer Mindestreichweite schmelzen läßt, muss sich nach Hochgeschwindigkeitsfahrten erst noch auf deutschen Autobahnen zeigen.
Hier an der norwegischen Atlantikstraße kann der SLS E-Cell jedenfalls in jeder Hinsicht begeistern. Der Vortrieb ist bei allen vier Programmen mächtig – das Fahrverhalten exzellent. Besonders in den Modi Sport Plus und Manuell gibt es kein Halten mehr, wenn die Maximalleistung abgerufen wird. In den unten Fahrprogrammen Comfort und Sport stellt der E-Cell 40 bis 60 Prozent seiner Leistung zur Verfügung.
Kaum noch offene Fragen
Nach über 80 Kilometern flotter bis schneller Fahrt auf der Landstraße zwischen Kristiansund und Bud zeigt der Bordcomputer noch knapp 50 Prozent Restkapazität für den Akkupack an. Bei längeren Abfahrten an Brücken oder hinunter zur Unterführung des südlichen Kristiansund-Fjords kann der Fahrer über die Schaltpaddel am Steuer einstellen, wie viel Energie er durch die Bremsenergie und die Rekuperation zurückgewinnen will.
Bleiben kaum noch Fragen offen. Am Thema Ladezeit müssen die Entwickler von AMG noch arbeiten. "Ist der Akku leer, kann der Ladevorgang schon acht Stunden dauern", räumt Jan Feustel ein. "Die ersten 60 Prozent gehen vergleichsweise schnell. Danach wird es zäh. Mit Starkstrom wie 400 Volt funktioniert das Ganze natürlich deutlich flotter.
Und es geht um den Klang. "Das Einspielen von künstlichem Motorsound kommt für uns nicht in Frage", beteuert Marten. "Der Wagen muss auf jedem Fall elektronisch klingen." Aktuell erinnert der Sound jedoch eher an eine beschleunigende S-Bahn.
Da haben die Entwickler nach den ersten Testfahrten in Norwegen also durchaus noch einiges auf der Agenda. Dann kommt auch Kristiansund wieder zur Ruhe. Ein paar Tage war der papageiengelbe SLS E-Cell die Attraktion. Jetzt geht es wieder nur um Fischerei, Bohrinseln und die Touristen.
Die Sounds zu diesem Auto auf |
|
|
|