Autokonzerne denken um. Um in Zukunft erfolgreich zu sein, müssen sich die tief industrialisierten Firmen als Mobilitätskonzerne neu erfinden. Der Puls der Zukunft schlägt dazu im Silicon Valley.
Der moderne Bau unter der Adresse 309 North Pastoria Drive ist eines der schickeren Gebäude in Sunnyvale, einem ansonsten gesichtslosen Büroagglomerat im Süden der San Francisco Bay. Vor zwei Jahren hat Mercedes-Benz dort sein neues Entwicklungszentrum eröffnet. Es gibt zahllose Parkplätze vor der Tür, eine bunte Kantine, die auch einem trendigen Möbelhaus entstammen könnte und zahlreiche Terrassen für Arbeit und Entspannung. Keine Spur vom eher altbackenenen Mief, den der Daimler-Konzern an seinen Heimatstandorten wie Stuttgart-Möhringen oder Untertürkheim verbreitet.
Die meisten der aktuell rund 240 Angestellten im Research and Development Center of Mercedes-Benz North America kommen Tag für Tag offensichtlich gern an ihren Arbeitsplatz. Kommen und gehen wann man will, eine alte Jeans mit einem Schlabbershirt tragend und sich in Flip Flops auf die hauseigene Eisbar freuend. Wer in einem Meeting eine Idee hat, der malt sie gleich mit einem Filzstift an die abwaschbare Bürowand. Das ist die Arbeitszukunft, made by Silicon Valley. Und so locker es in Sunnyvale auch zuzugehen scheint: Nicht zuletzt dort entscheidet sich die Zukunft des Daimler-Konzerns.
Chef des ganzen ist Arwed Niestroj. Seine offene Denke sieht man ihm an. Er hat sie schon länger, musste als Entwicklungsverantwortlicher für die Brennstoffzellenfahrzeuge von Mercedes aber erleben, wie die Serienumsetzung immer wieder nach hinten geschoben wurde. "Ich wusste natürlich, dass es hier anders ist", sagt Niestroj, "hätte aber nie gedacht, wie sehr anders. Es gibt hier einfach eine andere Atmosphäre. So entstehen andere Ideen und völlig andere Herangehensweisen."
Das macht den Funkkontakt in die Daimler-Zentrale nicht immer einfach. "Hier trifft man sich regelmäßig in Cafés und kennt auch die Wettbewerber besser als anderswo. Doch wie erzählt man das alles, damit einen die Leute zu Hause nicht für verrückt halten?" Vor den bodentiefen Fenstern stehen die Foodtrucks auf dem Parkplatz. Sie liefen auf Anruf kulinarische Spezialitäten jeglicher Nationalität auf das Firmengelände.
Die technologische Welt scheint sich auf einer Fläche von 30 mal 80 Kilometer rund 45 Minuten südlich von San Francisco abzuspielen
In den vergangenen Jahren entstanden in der kalifornischen Mercedes-Außenstelle unter anderem die Bedienkonzepte von Zukunftsmodellen wie dem Mercedes F 015 oder dem IAA-Aerodynamik-Konzept 2015. "Hier wurden unter anderem das erste Multi-Media-Interface oder 30 Apps für mehr als 80 Länder entwickelt", sagt Ralf Lamberti, Direktor für den Bereich User Interaction: "Es ist wichtig zuzuhören. Wir haben dabei in den vergangenen 20 Jahren sehr viel gelernt."
So wurden Mobilitätsideen wie Moovel, car2go oder Boost geboren. "Boost by Benz" ist zum Beispiel seit zwei Jahren ein exklusives Ruftaxi für Kinder von Berufstätigen. Zwischen 7 und 19 Uhr werden Kinder von der Schule abgeholt, den Lehrern übergeben oder zum Nachmittagssport gefahren.
Dass die Fahrt in einem der sechs kunterbunt bemalten Mercedes-Busse 22 Dollar kostet, stört angesichts des großen Aufwands mit einem eigenen Concierge an Bord anscheinend niemanden. Man verdient in dieser Region genug Geld, um einen Bogen um den öffentlichen Personennahverkehr zu machen. Täglich werden 40 bis 50 Kinder befördert - und die Eltern können auf dem Smartphone in Echtzeit mitverfolgen, wo sich der Nachwuchs gerade befindet.
Mercedes-Video
Wer durch das Silicon Valley fährt, atmet die visionäre Kraft an jeder Ecke ein. Autohersteller wie Mercedes, BMW oder Volkswagen sind mit ihren Entwicklungszentren dort beachtete Spieler.
Abgesehen von den Großkonzernen aus China und Japan haben viele der Zukunftsfirmen ihre Zentralen ins Silicon Valley verlegt. Google, Amazon, Facebook und Apple - alle sind sie hier. Die technologische Welt scheint sich auf einer Fläche von 30 mal 80 Kilometer rund 45 Minuten südlich von San Francisco abzuspielen. Im vergangenen Jahr wurden auf dem kleinen Fleckchen Erde allein 22 Milliarden Dollar investiert.
Die meisten Autofirmen haben verstanden. Mercedes beispielsweise eröffnete 1995 seine erste Entwicklungsaußenstelle in der Region. "Ich war von Anfang an dabei. Wir haben damals in einem kleinen Schuppen mit gerade mal 20 Leuten begonnen", blickt Eric Larsen zurück: "Es ist einfach anders - lockerer als anderswo. Niemanden interessiert hier, woher Du kommst oder wie Du aussiehst." Viele stammen aus Europa, den Emiraten oder Asien.
Um diese Mentalität zu verstehen, gab es für die 100 wichtigsten Führungskräfte von Mercedes in diesem Sommer ein viertägiges Intensivprogramm in Sunnyvale. Neben der Arbeit im R & D Center wurden Kooperationspartner und Fremdfirmen besucht, viel Eis gegessen und der "digital Lifestyle" des Silicon Valley aufgesogen.
Jede wichtige Firma ist innerhalb von 30 Autominuten zu erreichen und zumeist reichten ein kurzer Anruf oder ein Facebook-Chat, um ein spontanes Treffen am Mittag einzutüten. Man ist offen, engagiert und sehr finanzstark. "Geld haben die Firmen hier mehr als genug", sagt Larsen, "es geht um die richtigen Ideen, es auszugeben. Die Region ist erfolgreicher als je zuvor."
Von der Boomregion wollen auch Autohersteller profitieren. Immer mehr bauen sich zu Mobilitätskonzernen der Zukunft um. Mit modernen Triebwerken, sehenswertem Design und beeindruckendem Fahrverhalten allein lässt sich langfristig wohl nicht mehr viel gewinnen. Der neue Geist fließt jedoch nicht aus altbekannten Köpfen in die Autokonzerne. So ist der Kampf um vielversprechende Nachwuchskräfte schwerer denn je.
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