Fluchend versucht der Mann im Trainingsanzug und der schäbigen Jacke, mit dem Schraubenzieher den Scheibenwischer seines altersschwachen Lada zu richten. Ein paar Minuten später quetschen sich auf derselben Straße in St. Petersburg zwei deutsche Luxuslimousinen durch das Verkehrschaos, gefolgt von einem Geländewagen mit Personenschützern. Glanz und Elend liegen in Russland auch auf der Straße dicht beieinander.
Der Marktanteil der heimischen Autoindustrie lag im ersten Halbjahr 2008 trotz gestiegener Produktionszahlen gerade mal bei 26%, Tendenz weiter fallend. So drängt es praktisch jeden Autohersteller nach Russland.
"Russland ist der absolut wichtigste Wachstumsmarkt in Europa. Er wird im Jahr 2008 Deutschland überholen und dann größter Automarkt in Europa sein", glaubt Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des Center Automotive Research (CAR) an der FH Gelsenkirchen.
Auch eine aktuelle Studie der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers kommt zu diesem Ergebnis. Für das erste Halbjahr 2008 verzeichnet die Studie eine Zunahme der Verkäufe um 41%. Den größten Anteil daran haben demnach importierte Neuwagen und in Russland produzierte ausländische Fabrikate. Die erfolgreichste Marke ist Chevrolet, gefolgt von Hyundai, Ford, Toyota und Nissan.
Jeder kriegt ein Stück vom Kuchen
"Der Automarkt spiegelt auch die großen Einkommensunterschiede im Land: Kaviar und Trockenfisch", sagt Dudenhöffer. Zu den beiden wichtigsten Fahrzeugklassen zählen Kompaktfahrzeuge auf der einen und Geländewagen auf der anderen Seite. So gehören zu den Top-Sellern Opel Astra, Chevrolet Lacetti, Hyundai Verna (Accent) und Renault Logan ebenso wie BMW X5, Audi Q7 oder Porsche Cayenne. Auch das Luxus-Segment boomt. Moskau beispielsweise hat die größte Maybach-Dichte der Welt.
Im russischen Wirtschaftsboom bekommt fast jeder sein Stück vom Kuchen ab. Für Nissan etwa ist Russland inzwischen der größte Markt in Europa und hat damit im vergangenen Jahr Großbritannien auf den 2. Platz verwiesen. Renault verkaufte in 2007 bei einem Marktanteil von knapp 4% über 100.000 Autos in Russland, rund 30.000 mehr als 2006. Das wichtigste Modell ist der Logan, der im 1. Halbjahr 2008 fast 42.000-mal verkauft wurde. Seit 2005 produzieren die Franzosen auch vor Ort – im Moskauer Werk Avtoframos.
Der koreanische Hersteller Hyundai begann im Juni den Bau eines neues Werkes in St. Petersburg. Für 2008 rechnet Hyundai mit einem Absatz von 200.000 Autos in Russland - das wären etwa 50.000 Stück mehr als 2007.
Der PSA-Konzern (Peugeot und Citroën) will zusammen mit Mitsubishi ein Montagewerk mit einer Gesamtkapazität von 160.000 Fahrzeugen in Kaluga bauen, 180 km südwestlich von Moskau. Dort sollen ab 2011 Mittelklassewagen und SUV vom Band rollen. "Die Produktion des künftigen Gemeinschaftsunternehmens entspricht der starken Nachfrage in diesen beiden Segmenten. In Russland entfallen auf Mittelklassewagen knapp 50 Prozent des Absatzes, und die SUV gehören zu den besonders wachstumsstarken Segmenten", heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung.
Profitieren vom Wachstum
Auch deutsche Hersteller profitieren von dem Wachstum. BMW steigerte 2007 seine Zulassungszahlen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 50% auf 14.008 Stück. Seit 1999 rollen beim Kooperationspartner Avtotor in Kaliningrad BMW vom Typ 3er, 5er und X3 vom Band.
Volkswagen hat nach eigenen Angaben im Jahr 2007 rund 32.000 Autos an Kunden in Russland ausgeliefert, im ersten Halbjahr 2008 waren es schon mehr als 20.000. Zusammen mit Skoda hat VW eine eigene Produktionsstätte in Kaluga. General Motors verkaufte 2007 fast 260.000 Autos in Russland. Darunter waren etwa 190.000 Chevrolets sowie 66.000 Opel-Modelle. 2008 verspricht ein weiteres Rekordjahr zu werden – bis Juni wurden nach GM-Angaben beispielsweise schon mehr als 53.000 Opel verkauft.
Statt nur zu exportieren, setzen immer mehr Hersteller auf die Produktion vor Ort. "Wer nicht in Russland ist, kann vom Markt nur halbherzig profitieren, da Russland Einfuhrzölle von 26% für PKW hat", sagt Dudenhöffer: "Bei den deutschen Herstellern ist Mercedes der einzige, der noch nicht in Russland Fahrzeuge baut. Das ist für Mercedes ein strategisches Risiko."
Die Schwaben erwägen allerdings, mit dem größten russischen LKW-Bauer Kamaz zusammengehen. Der Daimler-Konzern prüft sowohl den Bau einer Fabrik für die lokale Montage von LKW als auch die Beteiligung an Kamaz. "Daimler würde dabei die technische Kompetenz des globalen Branchenführers einbringen, während Kamaz über Anlagen, Vertriebsstrukturen und ein gutes Netzwerk vor Ort verfügt", erklärt das Unternehmen in einer Pressemitteilung. Der russische LKW-Markt ist schon jetzt der größte Europas.
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