Donnerstagabend, es ist 20 nach zehn und der Verkehr läuft ungewöhnlich ruhig. Normalerweise quetschen sich die Autos auch um diese Uhrzeit noch Stoßstange an Stoßstange im Schritttempo durch die Stadt. Jetzt aber läuft es gerade mal. Nicht lange: Trotz dreispuriger Straße winkt die Polizei nach und nach alle Autos von der Fahrbahn. Keine muckt, keiner mault. Sogar ein Rettungswagen im Einsatz muss warten.
Nach zwei Minuten ist die große Ausfallstraße verlassen und leer – bis eine wild blinkende Armada heranrauscht. Zwei silberne Mercedes E-Klasse mit Blaulicht – danach eine kleine Lücke und ein Ring von fünf schwarzen G-Modellen in Schwerstpanzerung. Sie umringen eine dunkle Mercedes S-Klasse mit der russischen Standarte auf dem rechten Kotflügel. Aha – Russlands Präsident Putin fährt nach Hause in Richtung Rubljowka.
Ein Mann um die 40 grummelt und meckert: "Putin, Putin" mosert er und schüttelt den Kopf. Der Rest bleibt russisches Kauderwelsch. Kurz danach geben die Polizisten die Straßen wieder frei. Es kann weitergehen.
Ein ähnliches Bild gibt es Tag für Tag hunderte Male auf den Moskauer Straßen. An jeder – wirklich jeder – Kreuzung in der Innenstadt stehen mehrere Polizisten. Nur dafür da, den Weg freizumachen, wenn Politiker, wichtige Wirtschaftsbosse oder Funktionäre freie Fahrt erwünschen. Der Rest der Verkehrsteilnehmer stellt sich hinten an – und zwar ziemlich weit hinten. Für Entfernungen von fünf bis zehn Kilometern muss man schon einmal mehr als eine Stunde Zeit kalkulieren – die Strecke von den beiden relevanten Moskauer Flughäfen in die Innenstadt kann zwischen einer dreiviertel und mehr als drei Stunden variieren.
Freiheitsdrang
Mit den Fahrspuren nimmt es in Moskau selbst und auf der Ringautobahn keiner so genau. Das gleich gilt für das Tempolimit. Die ansonsten nach wie vor überaus obrigkeitsbewussten Russen leben hier scheinbar ihren Freiheitsdrang aus. Tempo 120 in der Innenstadt sind keine Seltenheit. Auf der Autobahn fahren die dunklen Kolonnen aus gepanzerten Luxuslimousinen umrahmt von düsteren Geländewagen mit noch düsterer dreinblickendem Sicherheitspersonal sowieso was geht. Und auch die unüberschaubare Masse aus dreckigen Wolgas, neuen Toyotas, alten Opel Vectras und den zahllosen Lastenwagen bahnt sich ganz nach Belieben seinen Weg.
Vehement wird mittlerweile bestritten, dass die den Verkehrsfluss fördernden Blaulichtanlagen von halboffizieller Seite für rund 10.000 US-Dollar zu bekommen seien. Wer daran zweifelt, sollte sich jedoch einmal an die Prachtmeile Rubljowka stellen und die vorbeifahrenden Flotten an dunklen Blau- und Rotlichtfahrzeugen zählen. So viele wichtige Persönlichkeiten gibt auch der opulente Moskauer Staatsapparat nicht her.
Im Einsatz ist man anscheinend immer - selbst auf dem Weg zum Nobel-Einkaufzentrum Barvikha Luxury Village im Westen der Stadt. So wird ohne jede Scham wild über Standspuren, auf dem Mittelstreifen oder im Gegenverkehr gefahren. In keiner Stadt der Welt gilt das Recht des Reicheren derart eindrucksvoll wie in Moskau. Wer meinte, dass es in London verheerend, in New York nervig und in Paris katastrophal sei, der war noch nicht in der russischen Hauptstadt.
Warten. Oder Metro fahren
Selbst die Taxifahrer, in vielen Metropolen die einzig funktionierenden Routenfinder für die beste Zeit-Weg-Kombination, zucken an der Mockba meist nur mit den Schultern. Da man zumeist einen Festpreis ausgemacht hat, kann man sich dann nur noch auf abgewetzten Sitzen zurücklehnen und auf die nächsten Meter nach vorn hoffen. Zumindest das gut ausgebaute Mobilfunknetz verkürzt die Wartezeit beträchtlich.
Wer sicher und schnell von A nach B kommen will, hat daher nur eine Möglichkeit: die Metro. Die Moskauer U-Bahn ist eine der weltweit ältesten und abgesehen vom überschaubaren Komfort eine der Besten. Die Züge auf den unzähligen Linien kommen zumeist im Minutentakt. Hier läuft niemand, um eine Bahn noch zu erreichen. Der nächste Wagen leuchtet bei der Abfahrt der vorherigen meist schon aus dem Tunnel heraus. Mehr als neun Millionen Moskauer lassen ihr Auto daher stehen und fahren Tag für Tag mit der Metro in und durch die Stadt.
Bleibt bei kaum mehr als zehn Millionen Einwohnern nur die Frage, wer die Straßen ein paar Etagen höher so verstopft. Aber ein paar Geheimnisse muss es auch in Moskau selbst im dritten Jahrtausend noch geben. So wie die geheime Metro, die als Parallellinie nur wichtigen Funktionären zur Verfügung steht und mit drei geheimen Linien die Stadt bis ins weite Vorland durchzieht. Anscheinend lassen selbst die Blaulicht-VIPs ihre gepanzerten Autoburgen dann und wann mal stehen.
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