Testfahrer Andy Wallace ist sauer. Immer wieder ist er in seinem weißen Jaguar F-Type Roadster S die dreieinhalb Kilometer lange Gerade entlang gerast - ohne Erfolg. Die erhofften 300 km/h Topspeed wurden nicht geknackt. Zumindest diesmal nicht. Dabei wollte er Renn- und Testfahrer Norman Dewis folgen.
Peter Bingham, bei Jaguar verantwortlich für die Entwicklung der Sportwagen, steckt seinen Oberkörper aufgeregt in den weißen F-Type. Nach der nächsten Vollgasorgie von Rennfahrer Wallace schüttelt er wieder den Kopf: "179 Meilen - mehr ist nicht drin. Das war's."
179 Meilen und ein paar Stellen hinter dem Komma zeigt die filigrane Messelektronik an, die in dem Serienfahrzeug verbaut ist. 179 Meilen sind auf der gesperrten Landstraße unweit der belgischen Ortschaft Jabbeke ein mehr als beeindruckender Wert - immerhin 288 km/h. Doch Andy Wallace und das Team der Jaguar-Testingenieure wollten die 300-Marke knacken. Bei dieser Geschwindigkeit wird der 495 PS starke Power-Roadster Jaguar F-Type S an sich eingebremst.
Doch an diesem Tag soll es nicht sein. "Wir sind schon oft mit dem Wagen in der Erprobung 300 km/h und mehr gefahren", erläutert Chefentwickler Peter Bingham, "aber die Straße hier ist nicht ideal. Die Gerade ist nur rund zwei Meilen lang und zudem sehr wellig. Das kostet Höchstgeschwindigkeit."
Die Lokalität unweit der belgischen Küste ist nicht aus Zufall gewählt. Nur ein paar hundert Meter entfernt hat der ehemalige Jaguar-Cheftestfahrer Norman Dewis vor knapp 60 Jahren in einem Jaguar XK 120 mit 172 Meilen bzw. 277 km/h einen Geschwindigkeitsrekord gebrochen. Auch heute ist der rüstige Rennsenior vor Ort, um zu sehen, ob sein automobiler Nachfahre Andy Wallace in dem neuen Jaguar F-Type die 300-km/h-Marke knacken kann.
Zu wellig, zu kurz, zu kalt
"Unser XK 120 hatte damals am 21. Oktober 1953 ganze 3,4 Liter Hubraum und 265 PS. Für eine bessere Luftanströmung haben wir noch kurz vor dem Start einen Frontscheinwerfer ausgebaut", erinnert sich der ehemalige Testfahrer Dewis, "damit ich tiefer sitzen konnte, kam der Sitz raus und ich saß mit dem Hintern auf einem Kissen - darunter nacktes Blech. Ich könnte kaum über die Karosserie gucken."
Damit die Aerodynamik stimmte, wurde der kleine Brite nach dem Einsteigen noch mit einer Glaskuppel aus einem Kriegsflieger abgedeckt. "Allein wäre ich da nicht wieder raus gekommen, weil man diese nur von außen zuschrauben konnte", blickt der heute 92jährige zurück auf die Hochgeschwindigkeitsfahrt, die er auf fünf bar harten Slicks hinter sich brachte.
Da hat es der heutige Testfahrer Andy Wallace leichter. Er sitzt bequem im eng anliegenden Ledersportsitz eines schneeweißen Jaguar F-Type Roadster und hadert nach wie vor mit der welligen Fahrbahn: "Es war einfach nicht zu machen - zu wellig, die Gerade zu kurz und einfach zu kalt."
Im Vergleich zu Jaguar-Urgestein Norman Dewis sind die Voraussetzungen heute dennoch deutlich schlechter. Die Temperatur beim 2013er-Rekordversuch liegt nur knapp im Plus-Bereich. Während Norman Dewis fast fünf Meilen Strecke für eine Höchstgeschwindigkeit hatte, sind es heute nur rund zwei. Die alte zweispurige Autobahn, auf der ehemals viele Rekordfahrten stattfanden, gibt es in dieser Form nicht mehr.
Ein Trost bleibt Andy Wallace. Den Rekord vom damals hat er mit seinen 179 Meilen Höchstgeschwindigkeit geschafft. Er war damit sieben Meilen schneller als damals Norman Dewis.
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