Wir schreiben das Jahr 2009, es ist einer dieser lauen Spätsommertage in Südschweden. Eine junge Familie ist mit einem neuen Volvo V70 unterwegs nach Hause. Der Mann fährt, der einjährige Sohn schlummert in der Baby-Sitzschale auf der Rückbank.
Plötzlich, in einer lang gezogenen Kurve der Landstraße, kommt der Familie ein älterer Volvo auf ihrer Fahrbahnseite entgegen. Zum Ausweichen ist es zu spät, bei 60 km/h prallen beide Autos mit voller Wucht aufeinander. Ein ohrenbetäubender Knall erfüllt die Luft, die Fronten beider Autos werden zerquetscht, Splitter und Trümmer fliegen durch die Luft. Schon nach einer Sekunde ist alles vorbei, gefolgt von einer gespenstischen Stille.
Plötzlich ertönt ein Hornsignal, gleißende Scheinwerfer beleuchten die Unfallstelle. Der Unfall war nur eine Simulation in einem der größten Crash-Zentren Europas bei Volvo in Göteborg. Die beiden Autos waren mit Kabeln verbunden und wurden mit 2000 PS starken Elektromotoren auf Schienen in ihr sicheres Verderben geschickt.
Der Test beruht auf einem echten Unfall – zum Beleg stehen die Wracks neben den gelb lackierten Testfahrzeugen. Den Betrachtern läuft ein Schauer über den Rücken: Am Airbag des 13 Jahre alten Volvos klebt Blut. Die Rettungskräfte mussten das Dach abschneiden, um den eingeklemmten Fahrer schonend befreien zu können.
Der nachgestellte Unfall zeigt die Verbesserungen der passiven Sicherheit, die zwischen dem 13 Jahre alten und dem aktuellen V70 erreicht wurden: "Der Fahrer des älteren Volvo wurde schwer verletzt, ist aber wieder vollständig genesen. Sein Beifahrer und alle Insassen des anderen Autos trugen nur leichte Blessuren davon", berichtet Thomas Broberg.
Bei Volvo nennt man den Ingenieur meist nur "Mr. Saftey". Zum 10-jährigen Jubiläum des Crashtest-Zentrums bei Göteborg öffnete Broberg seine Spielwiese: Auf einem riesigen Areal können die Schweden jeden nur erdenklichen Unfall nachstellen. Das Herzstück ist eine 154 Meter lange Teststrecke, die mit einem 108 Meter langen beweglichen Ausleger kombiniert ist – hier werden die Autos aufeinander losgelassen. Durch die bewegliche Bahn können die Ingenieure jeden Aufprallwinkel simulieren.
Forschung vor Ort
Rund 400 Crashtest führt Volvo pro Jahr durch, dazu kommen zahllose Computersimulationen. Dabei geht es nicht nur darum, die passive Crashsicherheit zu erhöhen. "Wir wollen auch nachvollziehen, wie es zu einem Unfall kommt und welche Konsequenzen man daraus für die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen ziehen kann", sagt Broberg.
Bei jedem Unfall im Raum Göteborg, in den ein Volvo verwickelt ist, rückt ein Untersuchungsteam aus. Volvo nimmt neben Ford, Daimler, BMW und anderen Unternehmen zudem an einem europäischen Feldversuch teil, bei dem ganze Autoflotten mit Kameras und diversen Geräten zur Datenaufzeichnung versehen werden. Wenn es im Verkehrsalltag zu brenzligen Situationen kommt, können Wissenschaftler diese dann im Nachhinein haarklein analysieren.
350 Verkehrstote hatte Schweden im Jahr 2009, das ist selbst unter Berücksichtigung der Gesamtbevölkerung wenig im europäischen Vergleich. Doch die Schweden haben ein ehrgeiziges Ziel. Schon in den 90er Jahren brachte das Parlament die "Vision Zero" auf den Weg: Die Vision von einem Verkehrssystem, in dem niemand mehr getötet oder schwer verletzt wird.
Die Idee dahinter: Weil der Mensch immer Fehler machen kann, muss das System so gestaltet werden, dass Fehler keine fatalen Konsequenzen mehr haben. Die Autohersteller müssen ihren Teil dazu beitragen – durch maximale Crash-Sicherheit. "Bis 2020 soll niemand mehr in einem neuen Volvo verletzt oder getötet werden", sagt Broberg.
Crash beim Crashtest
Der Mensch bleibt der Unsicherheitsfaktor Nummer Eins – das zeigt sich auch im nächsten Crashtest, den Broberg demonstriert. Jeder vierte Unfall in Schweden ist eine so genannte Off-Road-Kollision, ein Crash ohne Fremdbeteiligung, bei dem der Fahrer zum Beispiel wegen Übermüdung von der Straße abkommt.
Im Test wird ein Volvo S80 mit 80 km/h von der Testbahn nach draußen ins Gelände katapultiert. Der Wagen gerät in einen Schottergraben, prallt auf einen Felsen, wird aus dem Graben wieder heraus geschleudert und knallt mit voller Wucht auf eine Böschung. Als sich der Rauch verzogen hat, nimmt Broberg den völlig zertrümmerten Wagen in Augenschein. "Mit Fahrerassistenzsystemen lassen sich solche Eigenunfälle vermeiden", sagt Broberg – etwa durch einen Spurwechselassistenten, der vor dem Verlassen der Fahrspur warnt.
Das auch bei minutiös geplanten Simulationen nicht immer alles nach Plan verläuft, muss Thomas Broberg beim dritten Test zugeben: Ein Volvo S60 fährt mit 35 km/h auf einen stehenden LKW zu. Eigentlich wollen die Schweden nun ihre Notbremsfunktion demonstrieren: Sensoren entdecken das Hindernis und da der Crashtest-Dummy am Steuer nicht auf die Warnung reagiert, soll die Technik den Volvo jetzt automatisch abbremsen. Doch irgendetwas geht schief – ungebremst prallt der Wagen auf den Anhänger des LKW. Broberg und seine Kollegen umkreisen stirnrunzelnd die außerplanmäßige Unfallstelle.
Wie sich später herausstellt, trug der berühmte menschliche Faktor zu dem missglückten Test bei: Weil die Batterie des Autos vor dem Test nicht richtig geladen wurde, nahmen die Ingenieure eine Schnellladung vor. Das, so Volvo, habe das elektrische System des Autos beeinträchtigt und den Fehler provoziert. Thomas Broberg nimmt den Vorfall gelassen: "So ist das eben im echten Leben – bei einem Crashtest kann einfach alles passieren."
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