Herzlich willkommen in der BMW Fahrerschule. Bitte einsteigen, die Schlaghosen zurechtrücken und den Sitz richtig einstellen. Unser BMW 320i befördert uns zurück zum 22. April 1977. Wir klemmen uns hinter das nicht höhenverstellbare dürre Volant, atmen den Duft von Plastik und plüschigen Polstern ein und versuchen vergeblich, mit dem Sendersuch-Rädchen am Bavaria S-Gerät Radio Luxemburg zu finden.
Der Nachrichtensprecher verkündet, dass US-Präsident Jimmy Carter gestern ein umfangreiches Energiespar-Programm vorgelegt hat. Franz Beckenbauer wechselt für 1,75 Millionen Mark von Bayern München zu Cosmos New York. Tausende Polizisten fahnden weiter nach der RAF, die vor zwei Wochen in Karlsruhe den Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen haben. Da schalten wir doch lieber auf "It’s a Game" von den "Bay City Rollers" um, die gerade die Hitparaden stürmen.
Übrigens: Unsere Straßen im Jahr 1977 sind auch ohne Terroristen alles andere als sicher. ABS, Airbags, ESP, Seitenaufprallschutz – von solchen Dingen haben wir Automobilisten noch nicht einmal was gehört. 1970 kamen mehr als 21.000 Menschen in Deutschland bei Verkehrsunfällen ums Leben - im Schnitt 57 Menschen pro Tag. 1977 ist diese Zahl schon deutlich kleiner geworden. Aber das liegt zum größten Teil an der bis dahin viel besser organisierten Unfallrettung.
Es gibt also viel zu tun für den finnischen Rallye-Haudegen Rauno Aaltonen, der gerade die ersten BMW-Fahrerschulungen entwickelt. Der Finne war einer der besten Rallye-Piloten der 60er Jahre. Seine Siege auf dem Mini sind legendär.
Automobilistische Psychotherapie
Die BMW-Leute schauten sich viele verschiedene Trainingsprogramme an - und entschieden sich schließlich für Aaltonens System. Er hatte für Leser der heute legendären Zeitschrift "Hobby" bereits Fahrsicherheitskurse durchgeführt. "Dabei habe ich festgestellt, dass man bei Lehrgängen für Laien völlig andere Maßstäbe anlegen muss als bei Rennsportkursen. Zum Beispiel können die Leute nach mehr als zwei Tagen Training einfach nichts mehr aufnehmen", sagt Aaltonen.
"Eigentlich ist ein Fahrertraining nur eine automobilistische Psychotherapie. Es geht darum, seine Emotionen zu beherrschen", weiß der Sportfahrer, der als Sechsjähriger zum ersten mal ein Auto steuerte. Und so steht beim ersten Fahrertraining 1977 zunächst mal ein Vortrag über "Stress am Steuer" auf dem Stundenplan.
Mit einem Dauerlauf am frühen Morgen wecken wir Körper und Geist. Lektionen über gesunde Ernährung dürfen ebenfalls nicht fehlen. Ein Diplom-Sportlehrer hält uns mit Fitness-Übungen auf Trab, und beim Pannenhilfe-Kursus lernen wir, uns selbst zu helfen. Schließlich hat jeder BMW noch einen voll bestückten Werkzeugkasten unter der Kofferraumklappe. Und in den Autowerkstätten der Republik kriegt man noch keine Sätze zu hören wie "Wir konnten das Problem nicht finden, weil der Fehlerspeicher nichts anzeigt".
Schleudern mit dem Youngtimer
Im Vordergrund des Trainings stehen natürlich die fahrerischen Übungen: Lenktechnik, Vollbremsung, Stotterbremse (ABS gibt's noch nicht, wir müssen selber stottern), Handbremswende, Ausweichen. Unser Trainingsfahrzeug ist ein BMW 320i.
Das 125 PS starke Auto hat eine Benzineinspritzung von Bosch, rollt auf 13-Zoll-Felgen, spurtet in zehn Sekunden auf 100 km/h und verbraucht im Schnitt 13 Liter Super auf 100 Kilometer. Der Neupreis beträgt stolze 19.380 Mark – 3000 Mark mehr als ein Audi 100 L und immer noch 380 Mark mehr als ein Mercedes 200. Für den harten Trainingseinsatz hat der 3er ein speziell abgestimmtes Fahrwerk und eine Differenzialsperre mit 40-prozentiger Wirkung.
Beim Selbstversuch mit dem 320i erfahren wir am eigenen Leib, dass Autofahren im Jahr 1977 noch echte Arbeit ist: Mit knapp 60 km/h fährt unser Wagen auf das doppelte Pylonen-Hindernis zu. Die Straßenlage des kompakten Klassikers ist gar nicht mal schlecht - aber im Vergleich zum heutigen 3er ist der alte so fahrdynamisch wie ein schwangeres Nilpferd mit Gleichgewichtsstörungen.
Die Federung geht arg in die Knie und man muss wie ein Irrer an der schwammig übersetzten Lenkung rudern. Wer sich nicht mit dem linken Fuß kräftig an der Fußraste abstützt, verliert auf den Sitzen ohne Seitenhalt komplett das Fahrgefühl. Wer aber eisern trainiert und seine Geschwindigkeit der Fahrbahn, dem Auto und dem eigenen Können anpasst, kann auch im Jahr 1977 viel Freude am Fahren haben.
Handbremswende und Panorama-Blick
Verlassen wir nun wieder die Zeitmaschine – für einen kurzen Rückblick auf 30 Jahre Fahrertraining. Die Grundprobleme der Autofahrer waren damals wie heute die gleichen: "Die Leute hatten eine völlig falsche Sitzposition und hielten das Lenkrad nicht richtig", sagt Rauno Aaltonen.
Bremsen, Kreisfahrten, Ausweichen – damals wie heute erreichten viele Fahrer im Ernstfall schnell die Grenzen ihres Könnens. Der Unterschied: "Heute verhindern bessere Fahrwerke und Sicherheitssysteme wie ESP im Ernstfall oft das Schlimmste. Das war damals nicht so." So wurde zum Beispiel die Handbremswende vorwärts und rückwärts nur deshalb geübt, um die Wahrnehmung der Fahrer beim gefürchteten "Panorama-Blick" zu schärfen. Viele erstarrten nämlich einfach wie das Kaninchen vor der Schlange, wenn der Wagen ins Trudeln kam.
Bis heute haben weltweit mehr als 200.000 Personen ein BMW-Fahrertraining absolviert, ein Viertel davon Frauen. Viele Trainingsinhalte haben sich im Lauf der Jahre kaum verändert. Allerdings bilden die modernen Fahrerassistenzsysteme heute einen Schwerpunkt der Ausbildung. Neben dem reinen Sicherheitstraining stehen Rennfahrer-Kurse, Offroad-Trainings und Motorrad-Kurse auf dem Plan. Insgesamt werden 44 Programme angeboten, die von 120 Fahrtrainern betreut werden. Der Fuhrpark umfasst 100 Motorräder und 250 Autos. Das günstigste Training kostet 185 Euro, Fahranfänger bis 25 Jahre zahlen 90 Euro.
Dass BMW mit seinem Fahrertraining wohl keinen finanziellen Gewinn macht, ist ein offenes Geheimnis. Wie andere Autohersteller nutzen die Münchner die Programme vor allem zur Kundenbindung. Der Leiter des BMW Fahrertrainings Frank Isenberg freut sich besonders, wenn Lehrgangsteilnehmer das Gelernte in einer gefährlichen Situation umsetzen konnten und den Trainern eine positive Rückmeldung geben.
An einen Brief erinnert sich Isenberg noch heute. Er habe mit den Worten begonnen: "Vielen Dank, ihr Lebensretter."
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