Seine mehr als 40 Jahre sieht man ihm wirklich nicht an. Er ist rot, in einem unanständig guten Zustand und so grazil wie kaum ein anderes Coupé aus den 60ern. Als dieser knallrote Lamborghini das erste Mal in die Welt entlassen wurde, kamen dort CO2-Bilanz, verstopfte Innenstädte und endlose LKW-Schlangen nicht mal in Endzeitfilmen vor. Heute, da der norditalienische Sportwagenhersteller mit Modellen wie Murcielago und Gallardo erfolgreich das Cutting-Edge-Design proklamiert, er scheint einem eine Ausfahrt im Lamborghini 350 GT wie eine Reise ins Mittelalter.
Man schreibt das Jahr 1963. Der Turiner Automobilsalon findet insbesondere in punkto Design weltweite Beachtung. Elegante Sportwagen kommen aus England und Italien, Chrom ist ein absolutes Muss und Sicherheitsausstattungen sind allenfalls auf den Schmierzetteln einiger Ingenieure zu finden.
Ein Rundgang über die Automobilmessen in Deutschland, Italien oder der Schweiz beschert echten Automobilfans einen Rausch der Sinne. Schönheitsköniginnen sieht man allenthalben - wohlgemerkt alle mit einem hölzernen Lenkrad und - zumeist - Speichenrädern. Der Lamborghini 350 GT passt in diese autobegeisterte Zeit. War er doch das erste Serienmodell, das die ehemalige Traktorenschmiede gegen die wild brüllenden Designkunstwerke von Ferrari und Maserati stellte. Zwölf Zylinder, 3,5 Liter Hubraum, 206 kW/280 PS und nahezu 250 km/h Spitzengeschwindigkeit - das sorgte bei vielen Autofans schon für schweißnasse Hände, ohne dass sie auch nur einen Meter gefahren wären.
Ciao Enzo
Produziert wurde der erste Serien-Lambo von 1964 bis 1967 - in einer Auflage von nur 120 Stück. Von dem Prunkstück automobiler Coupékunst existieren denn auch weltweit nur noch ein paar Dutzend Fahrzeuge. Firmeninhaber und Traktorenproduzent Lamborghini war unzufrieden mit seinem Ferrari. Und um Enzo Ferrari eins auszuwischen, kreierte er kurzerhand ein Konkurrenzmodell. Und was für eines: Der 350 GT ist weit mehr als eine Augenweide - er hatte auch deutlich mehr Power als die Konkurrenz aus Modena.
Doch was ist schon ein Zwölfzylinder angesichts der Formen, die ihn verpacken. Da sind die lange Motorhaube, die zahlreichen Chromelemente und die keck aus der Motorhaube herausschauenden Frontscheinwerfern. Ihr Licht war eher dünn. Aber ihr optischer Einfluss auf die 350er-Linienführung um so größer. Eine Augenweide auch die geteilten Stoßstangen an Front und Heck, die Kühlergrill und Heckkennzeichen umspielen und die weibliche Seite des Gran Tourismo unterstreichen.
Für das Design des zarten Italieners zeichnete seinerzeit Franco Scaglione verantwortlich. Der renommierte Turiner Karosserieschneider Sargiotto setzte die Ideen des Newcomers eindrucksvoll um. Doch Firmeninhaber Ferrucio Lamborghini war nach dem ersten Auftritt in Turin nicht vollends zufrieden mit der Kreation. So wurde Bianchi Anderloni als alter Hase damit beauftragt, vor dem 64er Salon in Genf für den letzten Feinschliff zu sorgen. Um Erscheinungsbild und Fahrverhalten zu optimierten, wurden beim 350 GT unter anderem der Radstand von 2,45 auf 2,55 Meter verlängert und das Dach um ein paar Zentimeter angehoben.
Für kleine Italiener
Die Reifen liegen tief in den Radkästen und geben den Blick frei auf die Speichenfelgen mit zarten 205/70er Reifen. Der Innenraum des ersten Lambo zeigt sich ebenso filigran wie das Äußere. Schwarze Ledersitze und das klar gezeichneten Armaturenbrett mit großartigen Rundarmaturen und einer wahren Schalterbatterie sorgen bei Pilot und Passagier für Wohlempfinden - vorausgesetzt man hat kein Gardemaß: Denn über 1,80 Meter sollte man nicht messen, sonst wird es auf den konturlosen Lederstühlen ohne Gurt und Kopfstütze knapp mit der Frisur. Die Verstellmöglichkeiten der Sitze sind rar. Wohl nur Insassen um die 1,70 Meter finden in dem Hecktriebler eine angenehme Sitzposition.
Doch der 350 GT ist nicht nur ein optischer Leckerbissen. Er ist auch ein Fahrerauto für Fortgeschrittene. 280 PS und ein zumindest in hohen Drehzahlen hungriger Zwölfzylinder verlangen im Grenzbereich nach einer souveränen Hand. Die sonntägliche Ausfahrt in den Bergen macht das Workout überflüssig - Arm- und Beinmuskulatur sind noch tagelang zu spüren. Leicht und locker geht hier kaum etwas von der Hand. Kupplung, Bremse und Handschaltung müssen mit allem Nachdruck bedient werden.
Bei einer Tour durch die Schweizer Alpen oder entlang der sonnenverwöhnten Cote d'Azure genießt man dennoch das mächtige Potenzial des Cruiser. Übersteigt der mit sechs Doppelvergasern ausgestattete Zwölfender bei den Drehzahlen die 4.000er-Marke, zeigt er sein wahres Gesicht: Bei 4.800 Umdrehungen auf dem Tourenzähler stehen beeindruckende 400 Nm zur Verfügung.
Wer es darauf ankommen lässt, der kann dem 1,4 Tonnen schweren Renner nahezu Tempo 250 entlocken und der Retro-Konkurrenz lässig enteilen. Nach kaum mehr als sieben Sekunden rauscht auf dem schmucken Armaturentachometer die 100er-Marke vorbei. Den versprochenen Durchschnittsverbrauch von 18,5 Litern Super auf 100 Kilometer gönnt man einer solchen Skulptur gerne - und tagträumt weiter von Gina Nazionale auf dem Beifahrersitz.
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