Kutschen und Pferdewagen bestimmen das Straßen- und Transportgeschehen in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Für die Fertigung der Wagengestelle sind die Stellmacher da - einer davon ist Giovanni Bertone, der sich 1912 in der aufstrebenden Industriemetropole Turin selbstständig macht. Produkte aus Bertones Vier-Mann-Betrieb erfreuen sich schon bald eines guten Rufes, zeichnen sich durch hochwertige Verarbeitung aus.
Während des Ersten Weltkriegs, der Italiens junger Industrie schwere Rückschläge versetzt und Teile der Bevölkerung ins soziale Elend stürzt, muss das Unternehmen die Fertigung einstellen. Nach dem Krieg geht Bertone erneut an den Start, mit vergrößerter Belegschaft konzentriert er sich fortan auf das Automobil, dem offensichtlich die Zukunft gehört.
Ähnlich wie Karmann in Deutschland fertigt der Turiner Handwerker die Aufbauten für die Chassis verschiedener Autobauer. 1921 bekommt das nun 20 Mann starke Unternehmen den ersten wichtigen Automobilauftrag - Bertone baut die Karosserie für das Modell Torpedo auf Basis des SPA 23 S.
Nicht nur mit neuen Produkten, auch mit neuen Fertigungspraktiken muss sich der gelernte Stellmacher auseinandersetzen. Um die noch immer hölzernen Karosserien mit dem technischen Untersatz zu verbinden, kommen zunehmend industrielle Fließbandtechniken zum Einsatz. Die immer höheren Geschwindigkeiten der Automobile stellen zudem neue Anforderungen an die Karosseriemacher. Um den Insassen von Trendsetter-Fahrzeugen wie Vincenzo Lancias Lambda Sicherheit zu bieten, müssen auch die Aufbauten deutlich robuster werden.
In den 1920ern arbeitet Bertone mit fast allen italienischen Autobauern jener Jahre zusammen - darunter sind Namen wie Aurea und Chribiri, die heute kaum noch jemand kennt. Aber auch die führenden Hersteller in der italienischen Automobilmetropole - Fiat und Lancia - geben manches in Bertones Hand.
Autos unter eigenem Label
1934 tritt Giovannis Sohn Giuseppe, keine 20 Jahre alt, in die Firma ein. Der Mann, den alle seit Kindertagen nur "Nuccio" nennen, wird das väterliche Unternehmen zu einem der weltweit führenden Designstudios machen. Bereits 1937 gewinnt Bertone mit der stromlinienförmigen Karosserie für den Fiat 1500 einen Designwettbewerb in Turin.
In den fünfziger Jahren kreiert Bertone mit dem damaligen Stardesigner Franco Scaglione die Karosserie für den Alfa Romeo Giulietta Sprint, der zum Inbegriff des italienischen Autodesigns der Epoche wird. Ursprünglich wollte Alfa Romeo 1000 Exemplare dieser Modellvariante fertigen - aufgrund hoher Nachfrage wurden es 40 000.
In bis dato unerreichte Regionen der aerodynamischen Perfektion dringt das Atelier mit den Concept Cars BAT 5, 7 und 9 vor, die in den 1950ern auf Basis des Alfa 1900 Sprint gefertigt werden. Die Konstruktionsexperimente gipfeln 1956 in den Abarth 750 Record, der auf einem Fiat 600 basiert und auf der Rennpiste von Monza für Aufsehen sorgt.
In den 1960ern hat Nuccio den genialen Designer Georgio Giugiaro an seiner Seite. Im Bertone-Atelier entstehen Modellvarianten für Alfa Romeo, Fiat, BMW, Aston Martin, Ferrari und Maserati. Aufsehen erregt 1966 Bertones Karosserie für den Lamborghini Miura, einer der schnellsten Sportwagen seiner Zeit. Zum Verkaufsschlager jener Jahre wird der Fiat 850 Spider, der Bertone veranlasst, die Tagesproduktion seines Unternehmens deutlich zu steigern. Bis zu 120 Einheiten laufen nun täglich in der Autoschmiede vom Band, die ihren Sitz seit Ender der 50er in Grugliasco vor den Toren Turins hat.
Staunende Fachwelt
Anfang der 70er arbeiten bereits 1500 Menschen im Bertone-Werk. Der italienische Großmeister der Autodesigner-Zunft versetzt die Fachwelt nun mit dem Stratos Zero auf Basis eine Lancia Fulvia in Erstaunen - der futuristisch gestylte Automobil-Body wirkt wie eine Synthese aus moderner Architektur, Bildhauerkunst und Industriedesign.
1972 stirbt Unternehmensgründer Giovanni Bertone. Sohn Nuccio ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Bertone-Skizzen stehen am Anfang automobiler Stilikonen wie Maserati Kamshin. Kommerzielle Erfolge feiert die Schmiede mit dem Fiat X1/9. In den 70ern beginnt auch die Zusammenarbeit mit Volvo. Der 264 TE ist das erste Fahrzeug, für das Bertone - von der Skizze bis zu den Testfahrten - die volle Verantwortung hat.
Die Designschmiede mausert sich zum vollwertigen Automobilhersteller. Ab Anfang der 80er bringt Bertone die Cabrio-Version des Fiat Ritmo und auch den X1/9 unter eigenem Label auf den Markt. 1987 kommt GM auf den renommierten Karossenschneider zu - die Cabrioversion des Opel Kadett ist, wie auch der Frischluft-Astra von heute, ein Bertone-Produkt.
Im folgenden Jahrzehnt experimentieren die Turiner mit alternativen Antriebstechnologien und innovativen Verbundmaterialien. Eine windschnittige, elektrisch angetriebene Flunder namens ZER stellt mit einem Spitzenztempo von über 300 km/h einen neuen Geschwindigkeitsrekord für Elektrofahrzeuge auf.
1997 stirbt Nuccio Bertone. Die Unternehmensgruppe Bertone gerät Anfang der 2000er Jahre in finanzielle Turbulenzen, das Autowerk in Grugliasco gehört heute dem Fiat Konzern. Das Designstudio in Caprie bei Turin wurde nicht veräußert und wird von Nuccios Witwe geleitet. Die Autos der Sammlung Bertone - 78 an der Zahl - gehören inzwischen zum nationalen Kunst- und Kulturerbe Italiens und können im Museum in Caprie bewundert werden.