"Pickle ist eine alte Lady, aber nichts für zarte Hände", sagt Georgina Wood und zerrt mit aller Kraft am spindeldürren Lenkrad. Der mächtige Bug des schwarzen Rolls-Royce Phantom II 40/50 HP dreht sich quälend langsam in die gewünschte Richtung, der Kreuzfahrtriese Queen Elizabeth II hatte wahrscheinlich einen nur unwesentlich kleineren Wendekreis. Die Kühlerfigur Spirit of Ecstasy thront derweil wie ein Schutzengel auf der Haube des Phantom II, so als wolle sie der Dame am Lenkrad den Weg weisen.
Georgina Wood vom renommierten britischen Rolls-Royce-Händler P & A Wood aus Essex und "Pickle" sind ein eingespieltes Team. Warum der ehrwürdige und bis zur letzten Schraube restaurierte Rolls den eigenwilligen Spitzamen Pickle trägt, weiß Georgina selbst nicht genau. Aber der Wagen, den Georgina stets respektvoll mit "She" anredet wie eine britische Lady, ist wie ein Familienmitglied. "Sie ist so elegant und schön", schwärmt Georgina. Rund eine halbe Million Britische Pfund müsste man für den Phantom II auf den Tisch legen, schätzt die Rolls-Expertin. Wenn er denn zum Verkauf stünde: Pickle gehört Rolls-Royce.
Wer mit diesem Auto unterwegs ist, braucht keine Hupe und auch keine Vorfahrt. Als wäre die Monarchie zurückgekehrt, machen andere Verkehrsteilnehmer respektvoll Platz und werfen dem Oldtimer bewundernde Blicke zu. Während sich Chauffeurin Georgina mit der Viergangschaltung und der durch viele Bergauffahrten ziemlich gereizten Kupplung abmüht, macht man es sich im Fond des Rolls bequem wie in einer Opernloge. Man versinkt in den urgemütlichen Lederpolstern und genießt den Fahrkomfort, den die Halbelliptikfedern bieten. Die Federung ist fast schon sänftengleich zu nennen - vor allem wenn man das Gerumpel und Gerappel manch anderer Autos dieser Epoche kennt.
Faszinierend ist auch, dass sich einige Designdetails noch heute im aktuellen Phantom Series II wiederfinden. Die zylinderförmigen Aschenbecher zum Beispiel, die sich aus der Armlehne ziehen lassen, oder die langen schmalen Griffmulden in den Türen. Und genau wie heute dringt das Motorgeräusch des Wagens bei normaler Fahrt kaum zu den Insassen durch. Ein 7,7 Liter großer Reihensechszylinder werkelt unter der Haube. Seine Leistung bezeichnet Georgina mit 40 bis 50 PS als "ausreichend" - bis zu 120 PS waren es bei einigen Modellen des Phantom II. Der heutige Phantom Series II hat fast viermal so viele Pferdchen zu bieten und auch noch die doppelte Zylinderzahl.
Vorsichtig, aber ohne Angst
In den 30er Jahren war der Sechszylinder freilich prestigeträchtig genug. Wie zu Zeiten des Phantom II üblich, kamen nur Chassis und Technik vom Hersteller, während das Blechkleid von renommierten Karosseriebauern maßgeschneidert wurde. Die hießen Mulliner, Thrupp & Maberley oder Park Ward - in der Park Ward-Schmiede erhielt "Pickle" ihre hübsche Hülle.
Der Rolls-Royce Phantom II wurde 1929 als Nachfolger des Phantom I vorgestellt. Er bekam nicht nur eine völlig neue Hülle, sondern war auch deutlich wartungsfreundlicher. Allerdings nur für damalige Verhältnisse. Damit der 80 Jahre alte Rolls auch heute noch schnurrt wie ein Kätzchen, muss Georgina nämlich vor jeder Fahrt eine umfangreiche Checkliste abarbeiten. Eine Fülle schicker Uhreninstrumente informiert über Pickles Befindlichkeit und allein für das Lenkrad bräuchte man eigentlich ein Handbuch: Mit kleinen Hebelchen rund um die Nabe stellt man den Zündzeitpunkt des Motors ein oder modelt das Benzingemisch von fett auf mager um.
Nach der Ausfahrt im Phantom klettert man aus dem Fond und hat das Gefühl, man habe gerade als König seinen Thron verlassen. "Für heute war das die letzte Ausfahrt", sagt Georgina. Erst einmal muss sie ihrer alten Lady mit der strapazierten Kupplung ein wenig Ruhe gönnen. Kurz vor dem Abschied fällt noch ein letzter Blick auf das kleine Wappen am hinteren Verschlag des Rolls. "Caute, sed impavide" lautet das lateinische Motto, das darunter geschrieben ist: "Vorsichtig, aber ohne Angst". Das passt wie angegossen. Vorsichtig muss man die alte und wertvolle Lady durchaus bewegen, aber Angst muss man nicht haben. Im Zweifel kann man immer darauf bauen, dass andere Fahrer Platz machen.