Das braun-schwarze Ungetüm mutet an wie eine Mischung aus Kutsche und Motorrad mit Stützrädern. Und genau genommen war der Reitwagen, den Gottlieb Daimler am 29. August 1885 unter der Nummer 36423 zum Patent anmeldete, genau das. 90 Kilogramm schwer, ein halbes PS stark und mit einen tuckernden Einzylinder-Triebwerk, war der Reitwagen Vorläufer aller Motorräder und Automobile.
Die ersten Meter legte Daimler nach jahrelangen Entwicklungen vor seiner damaligen Werkstatt in der Taubenheimstrasse in Bad Cannstatt zurück. Die erste längere Testtour von Bad Cannstatt bis ins drei Kilometer entfernte Untertürkheim fuhr dann sein Sohn Adolf.
Einfach aufsteigen und losfahren – daran ist bei dem 125 Jahre alten Reitwagen auch heute nicht zu denken. "Es dauert ungefähr 15 bis 20 Minuten bis der Motor angezündet ist und läuft“, erklärt Michael Plag, bei Daimler Experte für die ältesten der alten Fahrzeuge. "Der Reitwagen besteht aus besonders stabilem Eschenholz, die Motorteile aus Bronze, Messing und Stahl.“ Auf dem Holzgestell gibt es einen Ledersattel, einen dünnen Lenker und zwei Fußstützen.
Mit dem ersten Hebel links vor der Sattel wird die Verbrennung fein justiert, mit dem zweiten Hebel in Form einer Bonanza-Gangschaltung stellt der Fahrer die Riemenspannung für den Antrieb des Hinterrades ein. Zieht man den Griff nach hinten, tuckert der Reitwagen mit einigem Zucken los. Wird der Griff nach vorne gedrückt, bremst das ungewöhnliche Fahrzeug ab, indem eine Bremse direkt auf das mit Stahl ummantelte hintere Wagenrad drückt.
Benzin aus der Apotheke
Den Viertakt-Einzylinder-Motor hat Gottlieb Daimler in der Werkstatt neben seinem damaligen Wohnhaus selbst entwickelt und immer wieder verbessert. Zentrale Elemente sind die Glührohrzündung, das Schwungrad aus Bronze, ein Einlaß-Flatterventil und ein gesteuertes Auslaßventil. "Der Reitwagen fährt mit Leichtbenzin, wie es damals üblich und in der Apotheke zu bekommen war“, blickt Oldtimer-Experte Michael Plag zurück: "Das ist ein verbrennungsfähiger Kraftstoff – Hexan N.“
Da ein Tank fehlt, wird der Kraftstoff vor dem Start direkt in den Brennraum eingefüllt. Dann wird eine in Spiritus getränkte Lunte aus der Halterung am dünnen Lenker gezogen und angezündet. Damit wird das Glührohr, das sich unter dem belederten Sattel befindet, mühsam auf Temperatur gebracht. Michael Plag hilft heute mit dem Brenner etwas nach. Nach ein paar Minuten glüht der Stab kirschrot und nach dem Start mit der Kurbel kann die Zündung eingestellt werden. Den Ledersitz wieder drauf und aufgesattelt – es kann losgehen.
Eine Mischung aus unkontrollierten Explosionsgeräuschen und dem von Trabbi & Co. bekannten "Töff-Töff-Töff“ durchzieht den kleinen Park vor der Daimler-Gedenkstätte. Der hölzerne Donnervogel setzt sich mit seinen 0,5 PS und rund 150 U/min sanft aber holprig in Bewegung. Das mit Metall bespannte Hinterrad dreht kurz durch, der Reitwagen kippt nach links und wird von dem Stützrad sicher abgefangen. Es poltert und klappert – schließlich verfügt der Reitwagen über keinerlei Federung.
Pionier-Gefühle
Lenk- und Fahrgefühl sind ähnlich hölzern wie der Eschenrahmen des Zweirades und mit kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit geht es den winzigen Anstieg in der Parkanlage hinauf. Stefan Plag läuft zur Sicherheit nebenher und schnauft zufrieden, als Fahrer und Holz-Drahtesel endlich eine anscheinend fahrsichere Symbiose bilden. "Die Kurven ganz weit ausfahren und immer entgegen der Fahrtrichtung auf das Stützrad lehnen“, ruft er hinterher.
Doch die Gedanken des Piloten (Fahrers? Reiters?) sind längst im Jahre 1885. Nur ein paar Meter entfernt hat Daimler dem Reitwagen das Fahren beigebracht. Man würde lügen, würde man sich nicht ein kleines bisschen als automobiler Pionier führen.
Der Daimlersche Reitwagen ist nicht das Urmodell von 1885. Das Original ist beim Brand des Werkes Untertürkheim im Jahre 1903 den Flammen zum Opfer gefallen. 1985 – zum 100. Geburtstag – vergab Mercedes-Benz den Auftrag, zehn dieser Reitwagen nach originalen Maßstäben nachzubauen. "Einer davon blieb bei uns im Museum", sagt Plag, "die anderen gingen in verschiedene Länder. Richtig fahren kann jedoch nur dieser hier."
Der Aufwand, den Reitwagen nachzubauen, war enorm. Das Holz für den Rahmen stammt von einem Kutschenbauer aus dem Schwarzwald, die Metallteile kommen aus der Mercedes-Gießerei. Michael Plag: "Das Projekt dauerte damals rund eineinhalb Jahre. Ein solcher Nachbau dürfte allein an Arbeits- und Materialaufwand rund 100.000 Euro kosten.“ Doch der Wert für die Geschichte der mobilen Fortbewegungen war durch das Daimler-Patent vom 29. August 1885 deutlich größer. Schließlich wurden wenige Monate danach die echten Auto-Vorläufer, der Patent Motorwagen und die vierrädrige Motorkutsche vorgestellt.