Der erste Griff geht ins Leere. So sehr man auch zwischen Sitz und B-Säule herumtastet: Sicherheitsgurte sucht man vergebens. Als der in kräftigem Leuchtorange lackierte Passat LS im Jahr 1973 vom Band rollte, waren die Lebensretter noch nicht verpflichtend. Kinder tobten sorglos auf der Rückbank herum und Papa kurbelte an einem spindeldürren Volant ohne Pralltopf. Dabei war der VW Typ 32, von Star-Designer Giugiaro quasi als Zubrot zum Golf entworfen, ein Wolfsburger Quantensprung in Sachen Sicherheit, Komfort und Raumgefühl.
Der Vorgänger VW 1600, vom Volksmund gerne "Nasenbär" gescholten, hatte ein nicht gerade üppiges Platzangebot und als Hecktriebler ein wenig überzeugendes Fahrverhalten. Beim Passat dagegen waren Motor und Antrieb vorn. Mit McPherson-Federbeinen an der Vorderachse und einer hinteren Starrachse samt Schraubenfedern und Querstabilisator bot der Wagen eine für damalige Verhältnisse souveräne Straßenlage.
Noch heute lässt sich der knapp 900 Kilo leichte Senior, der mit seiner Lackierung im Straßenverkehr wie eine Leuchtboje wirkt, angenehm ruhig durch die Kurven zirkeln. Beim Rangieren stört die fehlende Servounterstützung kaum und mit einem Wendekreis von 10,5 Metern ist der 4,2 Meter lange Wagen überraschend handlich. Seite an Seite mit seinem Urenkel Passat CC fallen vor allem die 13-Zoll-Räderchen auf. Solche Formate findet man heutzutage höchstens noch bei japanischen Zwergenautos.
Aufstieg vom Nasenbär
Mit dem K70, einer Erblast aus der Übernahme von NSU, hatte der Volkswagen-Konzern seine Kunden schon einmal vorsichtig auf kantiges Design eingestimmt. Für den Ur-Passat bedienten sich die Wolfsburger allerdings in Ingolstadt: Der Wagen war - abgesehen vom Fließheck - eigentlich ein Audi 80. Es gab ihn als Coupé-artige Limousine mit zwei oder vier Türen und kleiner Kofferraumklappe.
9.060 D-Mark kostete das Basismodell mit 55 PS im Jahr 1973. Den Preis des 54 PS starken 1600 L hatte VW auf 9.030 Mark angehoben, um der Kundschaft den Umstieg vom Nasenbär auf den Passat schmackhaft zu machen. Später kam eine echte Fließhecklimousine mit großer Heckklappe dazu sowie die Kombiversion Variant, die allerdings nur rund ein Fünftel der Gesamtproduktion des Ur-Passat ausmachte.
Schon im Fond des Fließhecks könnten Erwachsene bequem sitzen - wenn die Kniefreiheit etwas üppiger wäre. Das Raumgefühl ist trotzdem enorm, was vor allem an den großen Fensterflächen liegt und an der Tatsache, dass der Ur-Passat auf so vieles verzichtet: Kopfstützen, eine Mittelkonsole und selbst ein Handschuhfach fehlen. Nach acht Schaltern und Hebeln kann man aufhören zu zählen, denn mehr gibt es nicht. Der Kofferraum ist eine nackte Blechbüchse, die jegliche Dämmung vermissen lässt. Als kleines Trostpflaster gibt es Türgriffe mit einem unbeschreiblich hässlichen Holzstruktur-Muster.
Der Oldie-Passat wird von der Stiftung Automuseum gehegt und gepflegt und nach jeder Ausfahrt sorgsam getrocknet. Denn die braune Pest hat frühe Passats dahingerafft wie die Fliegen. Erst im Rahmen von Modellpflegen wurde neben vielen Details auch die Rostvorsorge verbessert.
"Audi"-Passat in Brasilien
Dennoch sieht man heute zwar noch den ein oder anderen Golf I, aber so gut wie keinen Ur-Passat mehr auf der Straße. Als Brot-und-Butter-Auto und Lastesel wurde er meist zu Tode geknechtet. In den von der Ölkrise besonders gebeutelten USA schlug sich der Passat unter dem Namen Volkswagen Dasher gar nicht mal schlecht und in Brasilien wurde der Wagen sogar noch bis 1988 gebaut – acht Jahre nach dem Start der zweiten Modellgeneration in Europa und mit einer Audi-Front versehen.
Der 75 PS starke 1,5-Liter Vierzylinder unserer Leuchtboje präsentiert sich fast in jungfräulichem Zustand. Der Wagen hat nicht einmal 2600 Kilometer auf dem Tacho und wanderte vom Band direkt ins Museum.
Ein Vierganggetriebe übernimmt die Kraftübertragung. Mit einer Beschleunigung in 13,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h und einer Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h gehörte man 1973 schon zu den Schnellen. Doch dem von moderner Geräuschdämmung und seidenweicher Laufkultur verwöhnten Ohr möchte man heute kein hohes Tempo zumuten: Schon ab 120 hat man das Gefühl, der gereizt dröhnende Vierzylinder werde gleich durch die Haube springen und den Fahrer verprügeln.
Da ist die Fahrt im schneeweißen aktuellen Passat CC natürlich ein Zeitsprung in eine andere Welt: Wie in einem Mini-Phaeton gleitet man dahin und wird von der Cockpit-Landschaft wie von einem Kokon umschlossen. Schon der Basismotor bringt 160 Pferdestärken mit und ist mit durchschnittlich 7,6 Litern Verbrauch sparsamer unterwegs als der Ur-Passat mit 75 PS und 10 Litern. All der Komfort und Sicherheitsgewinn, den der Wagen in den letzten 35 Jahren angehäuft hat, fordert aber seinen Tribut: Eine gute halbe Tonne Gewicht trennt das leuchtorangene Passat-Coupé von seinem Urenkel.