Es ist die Entdeckung der Langsamkeit. Wer unter dem Label "Rallye" vor allem die wilde Hatz über staubige Feldwege, Sprunghügel und um vom Reifen schwarz radierte Asphaltkehren versteht, der war noch nie bei einer Oldtimer-Rallye unterwegs. Denn dort gehen die Uhren anders.
Nicht pure Schnelligkeit ist bei den Wertungsprüfungen gefragt, sondern auf Sekundenbruchteile genaues Fahren. 30 Meter in exakt elf Sekunden - das mach mal, wenn die Hundertstel Sekunden so flott über das Display der Stoppuhr huschen, dass kaum noch eine einzelne Ziffer zu erkennen ist. Und eine Distanz von knapp 70 Kilometern in der Sollzeit von zwei Stunden zu durchmessen, das verlangt selbst in der grandiosen Landschaft des Schwarzwaldes Geduld und Selbstbeherrschung.
Wir sind bei der ersten "Paul Pietsch Classic" unterwegs. Zu Ehren des Rennfahrers und Verlegers, der am Tag nach der Rallye seinen 100. Geburtstag feiert, rollt die Karawane der Old- und Youngtimer zwei Tage lang insgesamt 422 Kilometer durch die schönsten Ecken des Schwarzwaldes zwischen Freiburg und Stuttgart. Wir, das sind an diesem Wochenende - neben einer guten Hundertschaft weiterer Oldtimerfans - der Rennfahrer Jochen Mass am Lenkrad und ich als Beifahrer daneben mit dem Roadbook in der Hand und zwei Stoppuhren um den Hals. Und unser Mercedes-Benz 280 SE 3.5 Coupé, Baujahr 1969.
Die von Paul Bracq gestylten Coupés und Cabriolets der Baureihe W 111 gehören mit ihrer zeitlosen Eleganz zu den schönsten Modellen von Mercedes-Benz - 4,9 Meter lang und nur 1,5 Tonnen schwer. Von 1969 bis 1971 wurden gerade mal 3.270 Exemplare gebaut, zum Stückpreis von 30.636 D-Mark. Die Viergang-Automatik wird über einen Stockhebel am Lenkrad bedient. Unter der langen Fronthaube arbeitet ein Grauguß-V8 mit elektronischer Saugrohreinspritzung und Leichtmetall-Zylinderköpfen. Mit einer Leistung von 147 kW/200 PS ist der für bis zu 210 km/h gut.
Man merkt denn auch immer wieder, wie es Jochen Mass im rechten Fuß juckt, mal richtig Gas zu geben und den Mercedes die schmalen Nebenstraßen hinauf tanzen zu lassen. "Wunderschön ausbalanciert", schwärmt er: "Und hör' dir einfach nur den Sound an." Aber wir sollen es ja langsam angehen lassen. Mit uns sind rund 100 Fahrzeuge unterwegs, dazu ein gutes Dutzend Wagen aus dem Tross. Das älteste Auto dabei stammt von 1927: ein Bentley 4,5 Litre. Und zu den jüngsten gehört der Mercedes-Benz SLS AMG E-Cell - die Paul Pietsch Classic soll Alt und Neu zusammenbringen und so fahren auch eine ganze Reihe von Elektro-, Hybrid- und Brennstoffzellenautos mit - zumindest ein paar der Etappen: "Classic meets Future".
Unter den Teilnehmern der Rallye ist reichlich Prominenz aus der Rennszene zu finden. Neben Jochen Mass zum Beispiel seine Kollegin Isolde Holderied mit dem ersten Toyota Corolla, der 1971 in Deutschland verkauft wurde. Oder Bernd Schneider im E-Cell SLS, Roland Asch im Porsche 911, Ex-Rennfahrer Hans Herrmann in einer F-Cell B-Klasse, Prinz Leopold von Bayern im BMW 328 von 1937, Aston-Martin-Chef Ulrich Bez in einem 60 Jahre alten DB3, Christian Geistdörfer im Opel Kapitän oder der Rennfahrer Marc Gené, der für den Enkel von Enzo Ferrari, Piero I., eingesprungen ist und einen Ferrari 750 Monza von 1954 steuert.
Die wunderschöne Route folgt zumindest in Teilen dem Lebensweg von Paul Pietsch. Hoch zum Schauinsland etwa über die ehemalige Bergrennstrecke und vorbei am Reporterturm, durch Titisee-Neustadt, dem Heimatort der Familie Pietsch, vorbei an seinem Elternhaus, über die ehemalige Zielgerade vorbei am Boxenturm der einstigen Solitude-Rennstrecke. Aber auch sonst hatten die Strecken-Scouts ganze Arbeit geleistet. Kaum ein idyllisches Tal, kaum eine Sehenswürdigkeit, die nicht im Roadbook steht. Schluchsee und Kinzigtal, Gutach und Mummelsee, Schloss Eberstein, Enzklösterle, Wildberg bis zum Ziel am Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart - manchmal ist Langsamkeit ein Segen. Und Gewinnen längst nicht alles.
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