Die gigantische Champagnerflasche ist wohl eines der spektakulärsten Stücke im Daimler-Fundus. In ihr befanden sich einst neun Liter feinsten französischen Pommery Brut Royal. Geköpft wurde der edle Tropfen bei der wohl wichtigsten Hochzeit in 130 Jahren Daimler. Alle Beteiligten unterschrieben am 12. November 1998 um 16.32 Uhr auf der grünen Flasche. Anlaß: Die Fusion von Daimler-Benz und dem amerikanischen Chrysler-Konzern. Heute weiß man: Was als Hochzeit im Himmel begann endete nach knapp zehn Jahren eher unrühmlich. Doch die Maxi-Magnum-Flasche überstand alle Wirren.
Die meisten Schriftstücke, Fotos, Filme und Artefakte im Daimler-Archiv erinnern an deutlich stimmungsvollere Ereignisse aus der Firmen-Historie. Da stehen in Vitrinen die seltenen Schreibmaschinen der Daimler Motoren Gesellschaft DMG aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ein Buch der legendären Benzreise von Gottlieb Daimler, bei der 1894 im Modell Viktoria insgesamt 2.000 Kilometer durch deutsche Lande gereist wurden.
Einzigartig eine Kladde mit ersten Entwürfen für das Daimler-Warenzeichen von 1883 mit zahllosen schriftlichen Anmerkungen. Oder ein handschriftliches Kochbuch der Familie Daimler, entstanden zur Weihnachtszeit 1925. Mit bunter Reiterstruktur sind Klöße, Suppen, Saucen, Gemüse, Fleisch und Bratenspeisen fein säuberlich geordnet.
Auf die Aufnahmeurkunde des Benz-Patents von 1886 in das Weltkulturerbe vom 15. Juli 2011 sind die Daimler-Verantwortlichen besonders stolz. Sie belegt, dass die Patentschrift zu einem der wertvollsten 300 Schriftstücke der Welt gehört.
Wer in das Archiv eintaucht, das in einem unscheinbaren Bürobau mitten in Fellbach untergebracht ist, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Seit dem Umzug Ende 2015 befinden sich dort insgesamt 15 Regalkilometer an historischen Dokumenten, spektakulären Artefakten, seltenen Fotos und Filmen, die die Sammlung zum wohl größten Wirtschaftsarchiv Europas werden lassen.
In den Unterlagen ist der komplette Briefverkehr zwischen Emil Jellineck und Daimler zu finden
So gibt es unter anderem alte Farbtafeln ehemaliger Fahrzeuge, Datenkarten von mehr als zehn Millionen verkauften Fahrzeugen. Es lässt sich nachlesen, wer welches Modell mit welcher Ausstattung bestellte und wie teuer es letztlich wurde. So wurde der erste aller Daimler am 31. August 1892 an den Sultan von Marokko veräußert und Generalimporteur Emil Jellinek aus Nizza bestellte am 22. Dezember 1900 seinen ersten Wagen. "Es wünschte die Karosserieform Phaeton", erläutert Archivar Gerhard Heidbrink mit Blick in das handschriftlich ausgeführte Stammbuch, "ein offener Tourenwagen mit 30 PS. Preis damals: 21.000 Mark."
In den Unterlagen ist zudem der komplette Briefverkehr zwischen Emil Jellineck und Daimler zu finden, in denen der Erstkunde seine Sonderwünsche äußert - zum Beispiel Räder von Rothschild aus Paris - natürlich "in erster Qualität".
In einer spektakulären Bibliothek mit 15.000 Büchern befinden sich selbst Printtitel der Allgemeinen Automobil Zeitung aus dem Jahre 1900, in der zum Jahreswechsel der erste Mercedes vorgestellt wurde.
Mittlerweile gibt es auch die Geburtsurkunde von Mercedes Jellinek, die gemeinhin als die Namensgeberin der Marke Mercedes gesehen wird. Sie wurde am 16. September 1889 in Wien als Tochter des französischen Automobil-Enthusiasten und Autoimporteurs Emil Jellinek geboren, der seine Fahrzeuge bei Autorennen unter der Bezeichnung "Mercedes" starten ließ, um diese besser vermarkten zu können.
Eines der ungewöhnlichsten Exemplare aus der Daimler-Historie erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Auf einer schlichten Holztafel thront ein Mercedes-Kühlerstern zusammen mit einer deutschen und einer amerikanischen Flagge inklusive Messingplakette. "Dieser Stern hat es auf den Mond geschafft", sagt Archivleiter Gerhard Heidbrink: "Am Abend vor ihrem Flug auf den Mond lernten die Astronauten des Apollo-14-Raumschiffs Kittyhawk bei einem Umtrunk Udo Danzer kennen, brachen nachts den Mercedes-Stern von seinem W 111er-Coupé ab und brachten ihn nach dem Flug im Februar 1971 wieder zurück. Als Entschuldigung eröffneten sie Udo Danzer, dass der Stern mit ihnen auf dem Mond gewesen sei."
An den Kopfseiten der grauen Regale informieren kurze Übersichten darüber, was dort zu finden ist
Zwei schwere Stahltüren weiter geht es in einen klimatisierten Archivraum, in dem in Rolllagerregalen und gewaltigen Schubladen die wichtigsten Erinnerungsstücke aus rund 130 Jahren Daimler-Historie lagern. Das Thermometer zeigt exakt 20,1 Grad Celsius und eine Luftfeuchtigkeit von 48 Prozent an. In der Mitte des Raumes: ein historisches Mercedes-Fahrrad aus Marienfelde, einer der ältesten Produktionsstätten des Daimler-Konzerns.
Anekdoten und Geschichten finden sich im Daimler-Archiv an jeder Ecke. Da thronen in Regalen die zahllosen Rennpokale, die aktuell nicht in anderen Ausstellungen oder im Mercedes Museum zu bestaunen sind. Das Rollregallager selbst erinnert an eine moderne Bibliothek. An den Kopfseiten der grauen Regale informieren kurze Übersichten darüber, was dort zu finden ist. In P062 residiert aktuell zum Beispiel das LKW Archiv mit historischem Blattwerk zu Lastwagen Benz, Lastwagen Daimler, Lastwagen Langhauber, Frontlenker und Kurzhauber.
Nach rund einem Jahr ist das Archiv noch immer nicht fertig. "Es ist ein ständiges Projekt", sagt Heidbrink, "es gibt immer was zu tun für die 28 Mitarbeiter hier."
Erinnerungen wecken die zahllosen Rennplakate aus der Vorkriegszeit oder eine Sammlung von rund 2.000 Bleistiftskizzen aller Mercedes-Modelle von Mitte der 30er bis zum Ende der 90er Jahre. Diese schlummerte Jahrzehnte unbeachtet im Daimler-Design, ehe sie ein in den Ruhestand gehender Designer vor Jahren an das historische Archiv übergab. Vom Uhlenhaut Coupé bis zur Pagode oder den vergleichsweise modernen S-Klasse-Modellen der Baureihe W 140 ist jedes Modell fein säuberlich mit Bleistift auf Skizzenpapier verewigt.
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